Meinung am Mittag Da fehlt etwas

Keine Sensation, keine Revolution. Aber es ist vernünftig, was Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz als Koalitionsvertrag präsentieren werden.

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Der Koalitionsvertrag von Union und SPD ist der akzeptable Versuch, drängende Probleme zu lösen. Aber er ist kein Aufbruch. Wo ist die große Idee? Wo ist die Antwort auf die aggressive AfD?

Kommentar von Stefan Braun

Die alte neue große Koalition wird kein rauschendes Fest und sie bringt keinen Anfang voller Zauber. Nach zwölf Jahren Angela Merkel ist die Hoffnung darauf eine Illusion geblieben. Zu erschöpft wirken viele in den Unionsparteien; zu sehr kämpft die SPD mit sich selbst; zu sehr hadern die Sozialdemokraten mit ihrem Schicksal. Das mühsame Gezerre in den letzten 24 Stunden hat das eindrucksvoll bestätigt. Und es lässt erahnen, wie fragil alles bleiben wird in den nächsten Wochen.

Gleichwohl ist das, was Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz als Koalitionsvertrag präsentieren werden, ein passabler Versuch, vier Jahre Zusammenarbeit neu zu begründen. Milliarden für bessere Schulen, Milliarden für eine bessere Pflege, Investitionen in die Digitalisierung, auch mehr Geld für den Wohnungsbau - das ist keine Sensation und erst recht keine Revolution. Aber es ist vernünftig und ein unverzichtbarer Schritt, um manche Großbaustelle im Land etwas kleiner zu machen. Pragmatisch, praktisch, einigermaßen okay - so lässt sich das einordnen.

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Zuletzt hatte sich eine Einigung mehrfach verzögert, Unstimmigkeiten gab es in der Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik. Über die Bildung einer Regierung entscheiden nun die Mitglieder der SPD. mehr ...

An einigen Stellen ist sogar der Versuch zu erkennen, lange Versäumtes endlich gut zu machen. Dass das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern in der Bildungspolitik abgeschafft werden soll, ist überfällig und nur von einer großen Koalition hinzubekommen. Union und SPD haben sich zu dieser Entscheidung mühsam gequält; dass sie es nun angehen wollen, hat das Potenzial, das Land in einem für die Zukunft unschätzbar wichtigen Bereich wirklich zu ändern. Das Problem ist beschämend groß geworden. Jetzt ist eine erfreuliche Portion Vernunft eingezogen.

Inspirierend freilich ist das Vertragswerk kaum. Und deshalb wird es auch keine große Leidenschaft entfachen. Merkels Nüchternheit - sie hat dem Ganzen noch einmal, ein letztes Mal, den Stempel aufgedrückt. Für Euphorie ist das zu wenig; zur Befriedung von drei verunsicherten Parteien ist es vielleicht aber der einzig mögliche Weg gewesen.

Doch so großzügig die Pläne im Einzelnen klingen mögen - alles lebt davon, dass Union und SPD dank gewaltiger Haushaltsüberschüsse spendabel sein können. Man mag gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn Deutschland in einer schwierigeren Lage stecken würde. Tief in volle Kassen greifen - das ist tausend Mal einfacher als in der Krise schwere Entscheidungen zu fällen.

Die Koalitionsverhandlungen wirkten wie business as usual

Als Antwort auf die Aggressionen und Herausforderungen durch die AfD dürfte das nun Beschlossene kaum ausreichen. Die AfD fordert Parteien, Parlamente und Regierungen in ihrer Existenz heraus. Deshalb hätte man sich eine ambitioniertere Antwort gewünscht. Aber das Trio Merkel, Schulz und Seehofer wirkt erschöpft und trotz aller Geldversprechen zögerlich bei dem Versuch, den Herausforderungen etwas Größeres entgegen zu setzen. Deutschland selbstbewusst, mutig, entschlossen in eine neue Zeit führen - so ein Anspruch lässt sich trotz aller Rhetorik aus diesem Vertrag kaum heraus lesen.

Hinzu kommt etwas noch Gravierenderes: Am Ende wirkten die Koalitionsverhandlungen, wirkten das Prozedere und der Umgang miteinander wie business as usual. Union und SPD erwecken den Eindruck, als machten sie halt doch irgendwie genau da weiter, wo sie vor der Wahl aufgehört haben.

Die Rituale von Debatte, Streit und Kompromisssuche sind die Gleichen geblieben; der Blick auf Rente, Arbeitsmarkt, Digitalisierung erinnert an frühere Zeiten und ehemalige Koalitionsverträge. Und die mehrfache Verlängerung über Tage hinweg wirkte wie genau das Staatsschauspiel, das viele Menschen nicht mehr fesselt, sondern abschreckt. Entsprechend drängt sich die Frage auf: Ist das alles die richtige Antwort auf die Krise der beiden Volksparteien?

Dabei wissen alle drei Parteien, dass sie als Wahlverlierer neu anfangen müssen. Sie wissen, dass die Wähler sie bewusst bestraft haben. Das war kein Unfall und kein Zufall. Es gibt eine erkleckliche Zahl an Wählern, die sich abgeschreckt fühlt und vielleicht ganz abwendet von so genannten Volksparteien, die keine neuen Ideen und keine neue Leidenschaft für die Demokratie entfalten.

Man findet diese Stimmung nicht nur bei der AfD, sondern auch in den Reihen der Christ- und der Sozialdemokraten. Dem zu begegnen, indem man die altbekannten Baustellen entlang der üblichen Konfliktlinien diskutiert, zeugt nur davon, wie verunsichert die Parteien sind und wie sehr selbst ihre Phantasie leidet.