Am Montag wird die Berliner Mauer länger verschwunden sein, als sie stand, heute wächst die Sehnsucht nach Grenzen wieder. Doch keine Mauer kann Terror, Globalisierung oder Populismus aufhalten.
Montag um Mitternacht beginnt ein vermutlich gewöhnlicher Tag in der Geschichtsschreibung, aber ein besonderer Tag für alle, die Geschichte lesen wollen. Dieser Montag kann dabei helfen, die Vergangenheit auf einmalige Weise einzuordnen. Er sortiert das eigene Zeitgefühl und schärft das Gespür für Beständiges und Vergängliches.
Zu dieser Mitternachtsstunde nämlich ergibt sich eine Art Tag-und-Nacht-Gleiche der Geschichte. So wie ein Vollmond gepaart mit einer Mondfinsternis Verzückung und Ehrfurcht auslöst, so eröffnet die historische Konstellation vom 5. Februar einen einmaligen Blick auf die Zeitgeschichte und die großen Schwungräder der Politik.
Am 5. Februar wird die Berliner Mauer länger verschwunden sein, als sie gestanden hat. Die Deutschen und mit ihnen der Rest der Welt werden dann länger ohne das Trennungssymbol der Nachkriegsepoche gelebt haben als mit ihm. 10 314 Tage lang durchzog der Mauer-, Beton- und Stacheldrahtwall die Stadt Berlin, das Land, Europa und damit auch die Welt. Am 9. November fiel die Mauer und mit ihr eine globale Ordnung. Am Montag werden 10 315 Tage seit diesem Augenblick vergangen sein. Die Mauer ist abgetragen und im Museum verschwunden. Nun wird auch die Erinnerung daran immer mehr der Geschichte übergeben.
Hasselhoff hat die Mauer doch nicht eingerissen
Die Mehrheit der Deutschen kann an diesem 5. Februar eine ganz persönliche Epochenbilanz ziehen, weil sie die Mauer, ihren Fall und vielleicht gar ihren Bau erlebt hat. Der Rückblick könnte beruhigend wirken in Zeiten, die als unruhig und furchteinflößend empfunden werden. 10 314 Tage - dieser Lebensabschnitt war ungeachtet aller empfundenen Sorgen friedlich und stabil.
Die Mauer war nicht nur ein besonders brutales Trennungswerk, sie war das übermächtige Symbol ihrer Zeit. Die Polarisierung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg schuf Berlin als Scharnierort. Der erbitterte Wettbewerb um Macht und Einfluss trieb das Jahrhundert der Ideologien in immer neue Extreme.
Die Mauer war das Sinnbild für die Unversöhnlichkeit dieser Welten. Die Sperre sollte die sowjetische Hemisphäre nicht etwa vor dem Angriff des Klassenfeindes schützen, sondern das eigene Volk an der Flucht hindern. 28 Jahre lang bildete die Konstruktion das Korsett für Unterdrückung und Unversöhnlichkeit. Eine lange Zeitspanne, ehe der Freiheitsdrang Kräfte entfesselte, die auch keine Mauer mehr aufhalten konnte.
Mauerfall als Beginn einer Lebensbeschleunigung
Der Blick auf die Mauerzeit ist heute gleich mehrfach faszinierend, weil der Menschheit selten das Glück vergönnt war, einen derart friedlichen Epochenbruch mitzuerleben. Der Blick zurück dient aber auch der Vermessung des eigenen Lebens, er ermöglicht die Gegenüberstellung des Davor und Danach, weil das Leben mit und ohne die Mauer so grundsätzlich unterschiedlich war.
Nicht zufällig fällt in den Zeitraum des Mauerfalls der Beginn der Kommunikationsrevolution, die heute zum wichtigsten Treiber von Geschichte geworden ist. Als westdeutsche Parteihelfer und Journalisten nach dem 9. November 1989 nach Ostberlin gingen, hatten viele von ihnen handtaschengroße Kästen mit Tastatur und Hörer dabei - die ersten Mobiltelefone. Der Mauerfall wird nicht nur von Ostdeutschen als Beginn einer Lebensbeschleunigung erlebt, die bis heute anhält.
Gleichzeitig ist die Mauer auch Gegenstand wehmütiger Erinnerung, ja gar der Verklärung. Das wirkt auf den ersten Blick befremdlich, weil die Teilung der Welt mit Unterdrückung und Brutalität einherging. Aber: Für nicht wenige bieten die 10 314 Tage einen Haltepunkt. Dieser geschlossene Zeitraum war für sie stabil, geradezu eingefroren. Seitdem fordert das Leben sehr viel Veränderung. Kontinuität und Gewissheit sind verschwunden.