Neue Freie Presse am 3. Februar 1928
Zwei unscheinbare Lokalnotizen dich untereinander. Nur allzuleicht gleitet der gelangweilte Blick achtlos und gleichgültig darüber hinweg. Sieht man aber ein wenig genauer hin, dann leuchtet zwischen den Zeilen in unheimlich glühender Flammenschrift das Schicksal eines ganzen Standes hervor. Ein Rechtsanwalt hat finanzieller Schwierigkeiten wegen Selbstmord begangen. Seine Freunde rühmen ihm nach, daß er ein edler Mensch gewesen sei, einer, der unzeitgemäß genug den Beruf nicht bloß als Erwerb auffaßte und nicht müde wurde, anderen mit dem Einsatz seines ganzen Könnens und Wissens zu helfen. Knapp darunter erzählt der Polizeibericht, daß die Gattin eines anderen Rechtsanwaltes durch einen grauenvollen Unfall den Tod gefunden hat. Sie ist beim Fensterputzen in die Tiefe gesaust und als zerschmetterte Leiche liegen geblieben. (…) Nun wird gewiß die menschliche Teilnahme absolut keine geringere sein, wenn eine unglückliche Hausgehilfin ihre Unvorsichtigkeit mit dem Leben bezahlt. Niemand wird etwa behaupten wollen, daß es „standeswidrig“ sei, wenn die Gattin eines Rechtsanwaltes manuelle Arbeit leistet, wenn sie auch vor der beschwerlichsten Fron, die der Haushalt auferlegt, keineswegs zurückscheut.
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