Carmen Rohrbach hat schon als Kind in der DDR von fernen Ländern geträumt. Nach Fluchtversuch und Haft kam sie ins Fünfseenland und wurde Abenteurerin. Auf ihren monatelangen Touren ist sie immer allein.
Ein Jahr lang hat sie ein Robinson-Dasein auf einer winzigen Insel im Galapagos-Archipel geführt. Ebenso lang war sie im Jemen unterwegs, vier Monate davon allein mit dem Kamel durch den wüstenartigen Hadramaut. Durch Island ist sie ein halbes Jahr lang solo gewandert. Und sie saß zwei Jahre wegen eines Fluchtversuchs in DDR-Gefängnissen. Carmen Rohrbachs Reiselust ist ungebrochen, was aber ihre Basis betrifft, ist sie wohl am Ziel angelangt. Seit 2008 lebt die 69-Jährige im Schondorfer Eigenheim. Wer meint, das Häuschen müsste überquellen mit Reiseandenken, täuscht sich: Ein paar Muscheln und markante Steine im Couchtisch sind alles, was sie an Greifbarem von ihren Touren mitgebracht hat. "Das Fotografieren und Schreiben reicht mir zur Verankerung", sagt Rohrbach.
Die promovierte Biologin glaubt, dass die Sehnsucht nach fremden Ländern bei ihr in den Genen verankert ist. Schon als Kind hatte sie Forscher-Biografien verschlungen, in der Schulzeit führte sie ein Außenseiterdasein. Aber Freunde habe sie nicht vermisst: "Ich hatte ja die Natur, und meine Eltern haben mir große Freiheit gewährt. Sie ließen mich allein im Wald herumstreifen und sogar übernachten." Ihr Interesse galt fast ausschließlich Tieren, fernen Länder und Naturvölkern. So sei es im Grunde auch heute noch: "Alle Menschen verändern sich, nur bei mir ist die Entwicklung stehen geblieben und hat sich verfestigt." Dabei blicken Rohrbachs Augen so lebendig und neugierig in die Welt, als wären sie mit jedem Lebensjahrzehnt nur ein Jahr gealtert. Ohne Zweifel lässt sich in ihrem Gesicht noch die siebenjährige Carmen erkennen, die in der Oberlausitz aufwuchs.
Seit 2008 lebt die 69-Jährige in Schondorf.
(Foto: Arlet Ulfers)Diese Frischheit erstaunt, denn um ihren Lebenstraum verwirklichen zu können, musste sie einen hohen Preis bezahlen: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch in der Ostsee wurde sie zu 32 Monaten Haft verurteilt und im gefürchteten DDR-Frauengefängnis Schloss Hoheneck eingesperrt. Doch das Gefängnis hat bei Rohrbach weder Hass noch Traumata hinterlassen. Selbst als sie nach einem Streik in einem Betonloch mit Gittertür wochenlang isoliert und ausgehungert wurde, fand sie das nach ihren Worten "eher interessant, ja fast lustig, weil ich wusste, die kriegen mich nicht klein". So erreichte sie, dass man ihr doch einen Ausreiseantrag vorlegte. Ein halbes Jahr später wurde sie von der Bundesrepublik freigekauft.
Ihre Zähigkeit hatte sich Rohrbach bereits als Kind antrainiert: Um für die Entbehrungen künftiger Forschungsreisen gewappnet zu sein, übte sie, tagelang ohne Essen und Trinken auszukommen. So überstand sie auch den missglückten Fluchtversuch in der Ostsee. Sie startete mit ihrem damaligen Freund im August 1974 nachts in Tauchanzügen schwimmend: im Schlepptau ein Schlauchboot, mit dem sie die 50 Kilometer bis Dänemark rudern wollten. Doch noch in Ufernähe kreuzte ein Suchscheinwerfer über die Wellen und ihr Begleiter zerstach das Boot. "Gegen jede Vernunft sind wir weiter raus geschwommen", erzählt Rohrbach. Als sie nach 28 Stunden zu Tode erschöpft war, stießen sie auf eine große Boje, an der sie sich festbinden konnten. Am nächsten Tag kam eine polnische Yacht vorbei. Gegenüber den Seglern gaben sich die Flüchtlinge in holprigen Englisch als Dänen aus, die beim Tauchen ihr Boot aus den Augen verloren hätten. Fünf Stunden später kreuzte ein Kriegsschiff der Nationalen Volksarmee auf, das die beiden 35 Kilometer von der Heimatküste entfernt gefangen nahm.
Auf einer Galapagos-Insel untersuchte die Schondorferin 1981 Meerechsen.
(Foto: Carmen Rohrbach/National Geographic Verlag)Auch in größter Verzweiflung mitten im Meer habe sie den Fluchtversuch nicht bedauert: "Ich hatte ja nichts zu verlieren", meint Rohrbach. "In der DDR wäre ich bestimmt krank geworden, weil ich mich dort nicht verwirklichen konnte." Dabei stand sie dem Staat erst wohlwollend gegenüber und zweifelte nicht am Sozialismus: "Bis zum Studium habe ich immer geglaubt, wir schaffen das." Die Kommilitonen in Greifswald streuten erste Zweifel in ihr Weltbild, und mit den Jahren musste sie erkennen, dass selbst ihr Biologiestudium nicht den Weg zu Entdeckungsreisen ebnen konnte. Trotz großen Engagements wurde sie nicht in eine Forschergruppe aufgenommen, die jährlich in die Mongolei aufbrach. Eine Bewerbung für ein Projekt in Kuba scheiterte, für das sie schon monatelang Spanisch gelernt hatte: Die Stasi intervenierte, weil Rohrbach Verwandte in der Bundesrepublik hatte. Jagd- und Tauchschein konnte sie zwar in der DDR erwerben, doch die Fernsucht ließ sich nicht durch Klettern im Elbsandsteingebirge oder eine Bulgarienreise per Anhalter stillen.
So ist für sie der 24. Juli 1976 ein zweiter Geburtstag geworden: Der Tag, an dem es "Fertigmachen zum Transport" in Hoheneck hieß und der für sie unverhofft im Westen endete. Rasch fasste Rohrbach im Landkreis Starnberg Fuß, wo sie die Verhaltensforschung anzog. Im Osten hatte sie in der Neurologie und Immunologie gearbeitet: "Da wurden Tiere nur als Objekte gesehen; das war nicht die Biologie, die ich wollte." Bei Professor Konrad Wickler in Seewiesen kamen Rohrbach wieder Chuzpe und Beharrlichkeit zu Gute: Weil sie sich weder am Telefon noch im Sekretariat abwimmeln ließ, schaffte sie es trotz Einstellungsstopps binnen weniger Wochen, im Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen aufgenommen zu werden. Sie nahm sich der Wüstenrennmäuse an, die dort gerade ohne Forschungsauftrag gehalten wurden. 1980 promovierte Rohrbach mit einer Arbeit über den Bruce-Effekt: Ein vorzeitiger Schwangerschaftsabbruch, der bei trächtigen Nagern eintritt, wenn sie den Geruch eines neuen männlichen Partners aufnehmen. Sonst besteht die Gefahr, dass der den Nachwuchs tötet, damit das Muttertier rasch wieder paarungsbereit ist.
Carmen Rohrbach im Jemen.
(Foto: privat)Nach der Promotion erhielt Rohrbach den Auftrag, in Galapagos die Fortpflanzung der Meerechsen zu erforschen. Sie lebte auf der knapp zehn Hektar großen Insel Caamaño, die nur mit einer Opuntie und Unterholz bewachsen war. Strom oder Telefon gab es nicht, gelegentlich brachten Fischer mit den Lebensmitteln Post mit. Obwohl die größte Stadt des Archipels, Puerto Ayora, nur fünf Kilometer entfernt war, blieb Rohrbach bis zu vier Monate lang allein. "Vom ersten Tag an habe ich gemerkt: Dafür bin ich gemacht", sagt sie. Langeweile kam nicht auf, in der Freizeit malte sie etwa Aquarelle oder schrieb an einem Buch über ihre Flucht.
Auch in Schondorf wohnt Rohrbach allein, noch kann sie sich nicht vorstellen, das Haus mit ihrem Freund zu teilen: "Vielleicht, wenn man mal alt ist." Auch angesichts der anhaltenden Begeisterung fürs Reisen hat man Zweifel, ob diese Lebensphase bei ihr jemals eintritt. Rohrbachs nächstes Ziel ist eine einsame Hütte in den kanadischen Rockys. Erst wollte sie dort Dezember bis Februar verbringen, doch das hat ihr die indigene Naturparkverwaltung verboten. Bei bis zu 40 Grad minus hätte sie rund um die Uhr heizen müssen und wäre dabei an Schlafmangel und Erschöpfung gestorben, fürchteten die Einheimischen: "Im Februar sind es noch minus 20 Grad, das wird Dir wohl reichen," erzählt Rohrbach lachend. In der Hütte wird sie bis Juni ausharren müssen, denn das Wasserflugzeug kann von März bis Mai - wenn das Eis sich aufwirft oder in Schollen auf dem Wasser treibt - nicht auf dem See aufsetzen. In den vier Monaten Trapperdasein will sie in der Gesellschaft von Grizzlys, Karibus und Elchen erleben, wie in 1250 Meter Höhe der Frühling einzieht. Handyempfang gibt es nicht, aber immerhin ein Funkgerät, mit dem sie einen Helikopter anfordern könnte. Doch den 5000 Dollar teuren Einsatz wird sich Rohrbach nur im größten Notfall gestatten. Das Risiko sei freilich gering: "Ich bin noch nie krank geworden auf Reisen". Auch das wertet sie als Beweis, dass Entdecken ihre genetisch fixierte Bestimmung ist.