Handball Aus Versehen handgreiflich

Der Handball-Nation Kroatien fehlt noch der Gewinn einer Europameisterschaft in der Titelsammlung. Im ersten Hauptrundenspiel kann das Team aber erneut nicht überzeugen.

Von Ralf Tögel, Zagreb

Die meiste Zeit der Partie lümmelte Igor Vori auf seinem Stuhl am Spielfeldrand: hier ein Pläuschchen mit dem Kollegen Marino Maric, dort ein Scherzchen mit Stipe Mandalinic. Der kroatische Kreisläufer verfolgte das Treiben auf dem Parkett völlig entspannt, es lief ja in die richtige Richtung beim ersten Hauptrundenspiel des Gastgebers bei dieser Handball-Europameisterschaft. 15:12 führte Kroatien zur Halbzeit, ohne dass Vori eine Sekunde hatte arbeiten müssen.

Als sich das Spiel aber seinem Ende zuneigte, wurde der Abend für die Kroaten ungemütlicher. Und plötzlich kam der kurze Befehl des Trainers an Vori: Zwei, drei Aufwärmübungen, dann trabte er aufs Feld. Zwei Minuten vor Schluss hatte Weißrussland zum 23:23 ausgeglichen, nun musste der Routinier doch noch ran. Luka Cindric traf zum 24:23, Vori störte den letzten Angriff der Weißrussen so geschickt, dass Artur Karvatski in ein Stürmerfoul rannte. Allerdings hatte Kroatiens Nationaltrainer Lino Cervar den weißrussischen Rückraumspieler vorher vom Spielfeldrand aus am Oberkörper festgehalten. Mit der Schlusssirene folgte der Konter zum glücklichen 25:23, der Traum vom Halbfinale lebt. Alles gut? Im Gegenteil: Der europäische Verband EHF hat nun ein offizielles Verfahren gegen den Trainer eingeleitet. Cervar aber sagt, seine Handgreiflichkeit sei pures Versehen gewesen. Immerhin zeigten sich die Kroaten vom Schrecken der Niederlage gegen Schweden im letzten Vorrundenspiel erholt. "Wir sind aufgewacht und haben zwei weitere Punkte auf dem Konto. Nur das zählt." Das ist die simple Wahrheit von Linkshänder Luka Stepancic, mit fünf Treffern neben Marko Mamic bester Torschütze. Vorerst blieben die Kroaten von einem weiteren Akt im Drama verschont, das mit der Verletzung von Domagoj Duvnjak im ersten Spiel begonnen hatte. Denn fortan saß der wichtigste Spieler im System von Trainer Cervar hinter der Bank, die Nation hofft indes, dass ihn die Teamärzte bis zu den K.-o.-Spielen fit bekommen. Nächster Akt: Trainer Cervar musterte den Torwart-Routinier Mirko Alilovic aus. Wegen mangelhafter Leistungen, so die offizielle Lesart, angeblich waren die beiden aneinandergeraten.

Alilovic, der für den ungarischen Topklub Veszprem spielt, war neben Vori einer der Routiniers, die Trainer Cervar eigens reaktiviert hatte. Im ersten Spiel ohne den 32-Jährigen offenbarte das neue Duo Ivan Pesic und Ivan Stevanovic große Schwächen, auch am Freitagabend stand der beste Torhüter auf der weißrussischen Seite. Vor allem Linksaußen Andrei Yurynok, der jeden seiner sechs Versuche trotz schlechter Winkel problemlos im Tor versenkte, deckte Schwächen bei den kroatischen Keepern auf.

Bleibt Igor Vori, 37, der gegen den nächsten Gegner Norwegen in seiner Geburtsstadt Zagreb sicher mehr Einsatzzeiten bekommen wird. Vori hat enorm viel Erfahrung und zusammen mit Cervar eine Weltmeisterschaft (2003 in Portugal) sowie olympisches Gold 2004 in Athen gewonnen. Ein EM-Titel fehlt der stolzen Handball-Nation noch, es ist der große Traum, diesen im eigenen Land zu holen. Schon an diesem Samstag könnte Norwegen diesen Traum beschädigen, zumal die Skandinavier bisher souveräner auftreten. Auch beim 32:27-Sieg gegen Serbien überzeugten die Wikinger. Die Serben leisteten mit ihrer bisher besten Turnierleistung bis zur Pause (17:17) noch erfolgreich Widerstand - doch den brachen die Norweger mit einer Tempoverschärfung innerhalb von zehn Minuten. Serbiens Spielmacher Petar Nenadic, der vor der EM von den Füchsen Berlin zu Veszprem nach Ungarn gewechselt war, zeigte sich trotz der Niederlage "nicht unzufrieden" mit der Leistung. Schließlich sei Norwegen eine "große Mannschaft", sagte der zukünftige Teamkollege von Marko Alilovic. Serbien dagegen ist wie Weißrussland weiter mit null Punkten zum Statisten degradiert.

Die Norweger bleiben aussichtsreiche Kandidaten für das Halbfinale dank des ausgeglichenen und hochwertigen Kaders. Das macht sie schwer auszurechnen, auch wenn Rückraum-Ass Sander Sagosen vom Millionen-Klub Paris St. Germain eine dominante Rolle spielt und gegen die Serben achtmal traf. Wie Kristian Bjornsen vom Bundesligisten HSG Wetzlar, der mit 29 Toren die EM-Statistik anführt. "Ich glaube, Serbien wurde in der zweiten Halbzeit müde, wir mussten viel laufen", erklärte der Rechtsaußen. Für ihn war es kein ruhiger Abend.