In Madrid soll die Gran Vía Fußgängerzone werden, in Paris wird eine Straße zum Strand umgebaut. Ist das die Zukunft der Städte - oder ihr Ende?
Manche Wunder geschehen auch, wenn man nicht dran glauben mochte: Der Broadway in New York hat sich zum Beispiel durchaus als Fahrradstraße bewährt. Vor allem dadurch, dass die Yellow Cabs zuverlässig im Stau feststecken; die Einzigen, die einem echt gefährlich werden können, sind achtlose Fußgänger und die anderen Radler, die noch aggressiveren.
Aber die Gran Vía in Madrid? Die broadwayhafteste Straße Europas? Werde schon in fünf Jahren nicht mehr wiederzuerkennen sein, hat Manuela Carmena jetzt angekündigt, die von einem Linksbündnis getragene Bürgermeisterin. Zum Ende ihrer Amtszeit wolle sie kein Auto mehr dort sehen, nur noch Fußgänger und Radfahrer, vielleicht noch ein paar Lieferautos und Taxis. Die Stadt soll bessere Luft bekommen. Die Vision von Carmena ist kühn, um das Mindeste zu sagen. Man kann es sich noch nicht so richtig vorstellen, wenn man ihn in den letzten paar Jahrzehnten ein bisschen kennen- und hasslieben gelernt hat, diesen sechsspurigen Canyon, den sie dem Verkehr vor hundert Jahren quer durch das Zentrum geschlagen haben. In den außer für Kleinstwagen undurchdringlichen Einbahnstraßenlabyrinthen links und rechts davon war Madrid überall älteste Altstadt; hier war es abrupt und entschlossen Großstadt. Dort standen "Ducados" rauchende Opis mit den Händen hinter dem Rücken und mit dem Franco-Schnauzer voran in den Gassen und begafften die oft noch viel älteren Prostituierten. Hier hingegen schob sich die Jugend auf den Bürgersteigen an pompösen "Zara"- und "McDonalds"-Filialen vorbei zu den Art-déco-Palästen der Kinos. Über allem thronte eine titanische Leuchtreklame für Tonic-Wasser, die daran gemahnte, dass in den Bars links und rechts der Gin schon bereit stand.
Tagsüber ist die autolose Straße ein Segen. Und bei Nacht? Ist sie tot
Und wenn man im Ernst jemanden mit einem Fahrrad sah, dann trug der es zur U-Bahn, um im Parque del Retiro ein paar Runden zu drehen. Denn vor den Zebrastreifen scharrten die Autos in Ermangelung von Hufen mit den Reifen, als gäbe es Punkte für den, der nach dem Startschuss als Erster einen trödelnden Fußgänger erwischt ... Ein aufregenderer Kontrast zwischen schnell und langsam, hoch und niedrig, 20. Jahrhundert und 19. ist selten mal wo inszeniert worden. Einmal, es muss 1997 gewesen sein, wollten Bauern mit ihren Schafen auf der Gran Vía für oder gegen etwas demonstrieren, bekamen aber nur einen Fahrstreifen freigeräumt; von den anderen her brüllten ihnen währenddessen die Taxifahrer Ausdrücke zu, die in keinem seriösen Wörterbuch stehen.
Wenn Madrids Bürgermeisterin es schafft, diesen Verkehrsdruck wegzuzaubern, muss sie trotz ihrer kommunistischen Vergangenheit mit Heiligenverehrung in jenen Kirchen rechnen, denen die Gran Vía ihre Knicke verdankt, weil die beim Bau stehen gelassen werden mussten. Es fragt sich nur, warum dann nicht gleich die 14 Gassen wieder errichtet werden, die verschwinden mussten. (Man kennt die schon deswegen bis heute, weil sie in dem Singspiel "Gran Vía", mit dem der Komponist Federico Chueca 1886 die Planungen verspotten wollte, alle als handelnde Personen zu Wort kommen.)
Bauen mit Vollkasko-Mentalität
Ob nämlich eine stillgelegte Gran Vía wirklich etwas so Wunderbares wäre, das ist, wenn man die Madrider Medien verfolgt, zumindest umstritten. Diese so autosatte Straße im Zustand der Leere gilt in Spanien eigentlich als eine Ikone des Unheimlichen. Es gibt dieses Bild in Amenábars "Abre los ojos" und in de la Iglesias "Día de la bestia", einem Thriller und einem Horrorfilm, und in beiden Fällen ist es das Zitat eines in Spanien sehr berühmten Gemäldes, das Antonio López 1975 geschaffen hat. Es transportiert sowohl die Friedhofsruhe im letzten Jahr der Diktatur als auch die Ruhe vor der "Movida", der Rückkehr des freien Lebens, das die alte Hauptstraße des republikanischen Spanien wieder mit Jugend, Bewegung und, ja, auch Verkehr füllen würde. Aber politisch derart ambivalente Effekte ergeben sich oft dort, wo Europas Metropolen mit Verkehrsberuhigungsmaßnahmen aus dem automobilen 20. Jahrhundert verabschiedet werden sollen.
Wenn in Paris etwa die Schnellstraße am Seine-Ufer in einen Strand verwandelt wird, wirkt das auf den ersten Blick wie ein letzter Sieg des Mai '68. Wenn aber die Kameras, die man zur Terrorprävention installiert hat, in der Praxis vor allem dafür sorgen, dass jeder, der beim Baguette-Kaufen kurz in der zweiten Reihe parkt, automatisch ein Ticket erhält: Dann ist das eher die Übersetzung von Foucaults "Überwachen und Strafen" in eine urbanistische Dystopie. Natürlich gilt auch hier, dass, wer sich nichts zuschulden kommen lässt, nichts zu befürchten habe. Aber das behaupten sie halt selbst in Nordkorea. Es mag ein Klischee sein, das Großstädtische gerade in einer Stadt wie Paris auch an der Toleranz für die kleinen Vergehen festmachen zu wollen. Und falls das doch mal zutreffend gewesen sein sollte, dann gehört das in Zukunft eben einer Vergangenheit an, in der auch Claude Lelouchs "C'était un rendez-vous" ein Grab hat - dieser Film einer recht zügigen Schussfahrt durchs nächtliche Paris, horizontales Fensterln sozusagen, denn am Ende wartete eine Frau; aber eigentlich ging es um die Schönheit der durchfahrenen Stadt.