Der isländische Handballer Gudjon Sigurdsson von den Rhein-Neckar Löwen ist mit 38 Jahren still geworden, aber er ist immer noch gefräßig - und steht kurz vor einem Weltrekord.
Gudjon Valur Sigurdsson sucht sich die Menschen sehr genau aus, mit denen er spricht, und Journalisten gehören nicht mehr dazu. "Ich habe genug Milch gegeben", schleuderte er einem Radio-Reporter einmal entgegen, in besseren Momenten sagt er schlicht: "Jetzt sollen mal die Jungen sprechen." Der Isländer - früher ein freundlicher, kommunikativer und meinungsstarker Gesprächspartner - möchte keine Interviews mehr geben, er ist satt vom Reden in der Öffentlichkeit.
Überaus hungrig, vielmehr gefräßig, ist der 38-jährige Handballer vom deutschen Meister Rhein-Neckar Löwen im Gegensatz dazu auf dem Feld geblieben. Vor 19 Jahren bestritt er sein erstes Länderspiel, und seither wirft der Linkaußen im Nationaltrikot in einer Beständigkeit den Ball ins Tor, wie die ARD täglich um 20 Uhr die Tagesschau ausstrahlt. 1790 Treffer hat er in 340 Länderspielen erzielt, und wenn er an diesem Sonntag, 14 Uhr, im Testspiel gegen Deutschland sieben Mal oder öfter erfolgreich ist, hat er einen Rekord aufgestellt, der wahrscheinlich für die Ewigkeit sein dürfte. Spätestens während der bevorstehenden Europameisterschaft (ab 12. Januar in Kroatien) dürfte der Isländer dann Peter Kovács überflügeln, der für Ungarn 1797 Tore warf.
"Es würde mich nicht wundern, wenn er die 2000 auch noch vollmacht", sagt Hendrik Pekeler. Der deutsche Nationalspieler will das Durchbrechen der historischen Bestmarke noch ein paar Tage aufschieben, aber aufzuhalten ist Sigurdssons Eintrag in die Geschichtsbücher wohl nicht mehr. Pekeler ahnt das, er spielt im Verein neben dem Linksaußen, der seit vielen Jahren den Spitznamen "Eiskrieger" trägt. "Der kämpft, bis der Wal tot ist", beschrieb Hans-Peter Krämer, der einstige Aufsichtsratschef des VfL Gummersbach, den durch große Willensstärke getriebenen Ehrgeiz des Isländers. Bis heute zählt Sigurdsson zu den besten Außenspielern weltweit. Er hat auch in seinem 19. Jahr in der Nationalmannschaft fast nichts von seiner Schnelligkeit und Abschlussstärke eingebüßt, die ihn zu einer Gefahr für jeden Gegner machen.
Als sei er vom biologischen Altersprozess abgekoppelt
Sigurdsson gehört zu der seltenen und deshalb verehrten Spezies von Profisportlern, die es geschafft zu haben scheinen, die Natur zu überlisten. Wie Skispringer Noriaki Kasai oder Biathlet Ole Einar Björndalen scheint Sigurdsson vom biologischen Altersprozess abgekoppelt zu sein. "Ich glaube, die fressen auf Island Steine", sagte zuletzt Nikolaj Jacobsen, Sigurdssons Vereinstrainer bei den Rhein-Neckar Löwen. Der Däne lachte bei seiner Äußerung, denn er weiß, dass es für die Vitalität des "Handball-Opas" (Pekeler) viel realistischere Erklärungsansätze gibt. Im formidabel besetzten Kader des zweifachen Deutschen Meisters gibt es keinen Spieler, der annähernd so bewusst trainiert und lebt. Nach den Trainingseinheiten mit dem Team hängt Sigurdsson eine halbe Stunde im Kraftraum an oder unterzieht seinen Körper einem ausführlichen Stretching-Programm. "Wenn man den Begriff Musterprofi verwenden will, ist er dafür prädestiniert", sagt Klub-Kollege Pekeler.
Der Ertrag für den bewussten Lebensstil kann sich sehen lassen. Olympia-Silber und EM-Bronze gewann Sigurdsson mit der Nationalmannschaft, zudem wurde er WM-Torschützenkönig. Seit 2012 ist er mit vier verschiedenen Klubs in drei Ländern ununterbrochen Meister geworden, zuletzt im vergangenen Sommer mit den Löwen. Sigurdsson gewann die Champions-League sowie den EHF-Pokal, wurde Bundesliga-Torschützenkönig, ein Ende der Titelflut ist nicht absehbar. Seine Gier ist mit jedem Erfolg gewachsen, die Sehnsucht nach Titeln größer geworden.
In ein paar Tagen spielt Sigurdsson zum zweiten Mal in seiner Karriere eine Europameisterschaft in Kroatien. Eine Sportler-Ewigkeit liegt die erste zurück - im Januar 2000. Für Deutschland spielten damals Volker Zerbe, Klaus-Dieter Petersen und Jan-Olaf Immel. Die zwei EM-Turniere im Abstand von 18 Jahren bilden für Sigurdsson aber keinen Kreis, der sich schließt, denn er denkt noch lange nicht ans Karriereende. Den Vertrag bei den Rhein-Neckar Löwen hat er gerade erst um vorläufig ein Jahr verlängert, ein Rücktritt aus der Nationalmannschaft kommt für ihn nicht in Frage. "Solange mich der Trainer nominiert, werde ich immer für mein Land spielen", erklärte Sigurdsson vor fast zwei Jahren. Da sprach er noch regelmäßig mit Journalisten.