Psychiatrie Die Volksdroge

Es schmückte Titelseiten und wurde in Popsongs besungen: Seit 30 Jahren gibt es das Antidepressivum Prozac. Heute schlucken etwa zwölf Prozent der Amerikaner dieses Mittel. Doch die Zukunft der Therapie liegt woanders.

Von Katrin Weigmann

Am 29. Dezember 1987 - also vor 30 Jahren - erhielt ein neues Antidepressivum des Pharmakonzerns Eli Lilly in den USA seine Zulassung. Prozac hieß es. Die Vorsilbe "Pro" lässt Positives anklingen, verbunden mit "zac" wirkt es schnell und effektiv. Die Markteinführung war begleitet von einer massiven Werbekampagne und die zeigte Wirkung: Prozac wurde zur Ikone. Es schmückte die Titelseite von Magazinen, wurde in Popsongs besungen, Prozac-Geschichten wurden zu Bestsellern und zu Kinoerfolgen. Spätfolge des Booms: Heute schlucken etwa zwölf Prozent der US-Amerikaner Antidepressiva.

Dabei beruhte Eli Lillys Marketingstrategie auf einem Irrtum. Psychiater sahen damals die Ursache von Depressionen in einem Mangel an bestimmten Botenstoffen im Gehirn: Noradrenalin und vor allem Serotonin. Eli Lilly warb damit, dass Prozac mit seinem Wirkstoff Fluoxetin gezielt das Serotoningleichgewicht wieder herstellt. Prozac war der erste Vertreter dieser sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, kurz SSRIs. Inzwischen gibt es etliche Medikamente mit diesem Wirkprinzip.

Heute weiß man allerdings, dass ein erniedrigter Serotoninspiegel allein noch keine Depression erklärt. "SSRIs erhöhen den Serotoninspiegel innerhalb weniger Stunden. Wenn das das Wirkprinzip wäre, sollte sich die Stimmung der Patienten sehr schnell verbessern", sagt Peter Gass, Wissenschaftler am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Das ist jedoch nicht der Fall, ein klinischer Effekt tritt erst nach Wochen ein und auch nur bei etwa sechzig Prozent der Patienten. SSRIs bekämpfen Depressionen also nur sehr indirekt. Aber wie genau?

"Ich vergleiche das gerne mit Dominosteinen - ein erhöhter Serotoninspiegel beeinflusst eine Reihe von molekularen Prozessen in den Gehirnzellen, die dann für den eigentlichen therapeutischen Effekt wichtig sind", sagt Christoph Turck vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Antidepressiva, wenn sie erfolgreich sind, regen die neuronale Plastizität an - das heißt, die Fähigkeit von Nervenzellen, neue Verknüpfungen zu bilden und damit flexibel auf äußere Faktoren zu reagieren.

Anhaltender Stress ist ein häufiger Auslöser von Depressionen. Stresshormone schädigen auf Dauer neuronale Strukturen in bestimmten Hirnbereichen. "Solche Veränderungen beeinflussen dann die Schaltkreise des Gehirns - auch solche, die die Stimmung regulieren", sagt Turck. Um Depressionen zu heilen, gilt es, diesen Veränderungen des Gehirns entgegenzuwirken. Wissenschaftler setzen deshalb ihre Hoffnung auf ein Medikament, das sehr viel direkter die Plastizität anregt: Ketamin. Das Medikament wird schon länger in der Anästhesie und bei der Schmerzbehandlung verwendet. Im Jahre 2006 zeigten Wissenschaftler vom National Institute of Mental Health in den USA erstmals in einer systematischen Studie, dass es auch als Antidepressivum wirkt.

Ketamin führt zur Ausschüttung von Glutamat an den Synapsen - ein weit verbreiteter Botenstoff im Gehirn, der bei der neuronalen Plastizität von fast allen Nervenzellen eine wichtige Rolle spielt. "Ketamin hat viel Potenzial, es wirkt schnell und effektiv - auch bei depressiven Patienten, die auf andere Antidepressiva nicht ansprechen und als behandlungsresistent gelten", meint Ronald Duman von der Yale University School of Medicine in New Haven, Connecticut (USA). Noch ist Ketamin nicht zur Behandlung von Depressionen zugelassen, denn es fehlt an klinischen Studien. Es wird dennoch in manchen privaten Kliniken off label angeboten.

"Für viele behandlungsresistente Patienten ist Ketamin schon heute der Weg aus der Depression. Aber es gibt auch noch Potenzial zu Weiterentwicklung", sagt Gass. Denn Ketamin hat Nebenwirkungen. Es kann psychotrope Effekte auslösen, hat eine dissoziative Wirkung und ist daher auch als Rauschdroge bekannt. "Nun gilt es, neue Substanzen zu entwickeln, die zwar die antidepressive Wirkung von Ketamin beibehalten, die Nebenwirkungen aber minimieren", erklärt Gass. Dazu muss man erst mal sehr genau verstehen, wie Ketamin im Gehirn wirkt. "Die Wissenschaft hat hier enorme Fortschritte gemacht", sagt Gass. Und dennoch ist es noch ein weiter Weg.

Turck widmet sich einer weiteren Frage von klinischer Relevanz: Welches Medikament hilft bei welchen Patienten? Gemeinsam mit seinem Team sucht er nach Biomarkern, die voraussagen, ob ein Patient auf ein Antidepressivum anspricht. "Wir verfolgen einen pragmatischen Ansatz, der dem Psychiater ermöglichen soll, schnell mit dem passenden Medikament zu helfen, um das Leiden der Patienten zeitnah zu verringern", so Turck.

Vor 30 Jahren warb Eli Lilly damit, der Depression durch ein Anheben des Serotoninspiegels zu begegnen. Heute weiß man, dass das zu kurz gegriffen ist. Wissenschaftler haben nun einen anderen Mechanismus im Blick - die Plastizität. Aber damit sind noch lange nicht alle Rätsel gelöst. "Wir sind noch ziemlich weit davon entfernt, zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert und was bei psychischen Krankheiten genau falsch läuft", sagt Turck. Das Wunderheilmittel, das in neuronale Prozesse so eingreift, dass es Depressionen ursächlich behebt, wird es noch lange nicht geben. Die Behandlung von Depressionen ist nach wie vor alles andere als "Pro" und "zac".