- Ablenkung ist ein großes Problem auf deutschen Straßen. Sie ist inzwischen für mehr Verkehrstote verantwortlich als Alkohol.
- Experten fürchten, dass der rückläufige Trend bei der Zahl der Verkehrstoten durch das Problem aufgehalten oder umgekehrt werden könnte.
- Sie fordern Gegenmaßnahmen - und nehmen dabei Gesetzgeber, Hersteller und Fahrschulen in die Pflicht.
Polizist Thomas Hennemann findet das Handy zwischen den Beinen des Fahrers. "Hallo" steht da noch im Display - offenbar hatte der junge Mann gerade begonnen, eine SMS zu tippen. Doch weiter kam er nicht. In einer Kurve driftet sein Wagen ab, mit Tempo 70 kracht er in einen entgegenkommenden Lkw. So rekonstruiert der Polizist aus Münster später den Unfall. Hätte der Fahrer sich nicht dem Gerät gewidmet, sondern der Straße vor sich - er könnte vielleicht noch leben.
Nach einer Studie des Versicherers Allianz aus dem Jahr 2016 ist etwa jeder zehnte Verkehrstote auf Ablenkung zurückzuführen. Das waren im Jahr 2016 bei 3206 im Straßenverkehr Getöteten etwa 320 Menschenleben. Zum Vergleich: Die Zahl der wegen Alkohol am Steuer Getöteten lag laut Deutschem Verkehrssicherheitsrat (DVR) bei 225, etwa 1100 Menschen starben aufgrund von überhöhtem oder unangepasstem Tempo. "Die Gefahren durch Ablenkung werden völlig unterschätzt", sagt Stefan Heimlich, Vorsitzender des Auto Club Europa (ACE).
erwartet das Statistische Bundesamt für 2017. Das wäre der niedrigste Stand seit 1949. Mit mehr als 21 300 Toten war 1970 der Höchststand erreicht worden. Bei den Verletzten rechnet das Amt mit einem Minus um zwei Prozent auf 390 000. Die Zahl der Unfälle dürfte leicht auf 2,6 Millionen steigen.
Automobilklubs, Vereinigungen wie der DVR und staatliche Institutionen wie das Bundesverkehrsministerium - sie alle versuchen, auf das Problem hinzuweisen. Seit Herbst läuft ein Kinospot der Aktion "Runter vom Gas - Finger vom Handy", in Bayern engagiert sich der Fußballer Joshua Kimmich in einer Verkehrssicherheitskampagne, bundesweit der Rapper Kay One. Zudem legen sich Forscher vielerorts auf die Lauer, um das Verhalten von Verkehrsteilnehmern zu erfassen.
So beobachtete der ADAC bei mehr als 7300 Radfahrern, dass etwa jeder zehnte sich per Kopfhörer beschallen ließ. Eine Feldstudie des ACE mit 140 000 beobachteten Fußgängern ergab, dass etwa jeder vierte Jugendliche beim Überqueren der Straße aufs Smartphone starrte, bei Erwachsenen war es etwa jeder sechste bis siebte. Künftig könnten das mehr werden, warnt Siegfried Brockmann vom Versichererverband GDV: "Die Digital Natives", also die Gruppe der jungen Leute, die quasi mit dem Smartphone in der Hand geboren wurden, "die kommen ja jetzt erst."
"Routine ist der größte Feind der Achtsamkeit"
In einer repräsentativen Umfrage der Dekra gaben 55 Prozent der Autofahrer an, ihr Smartphone zumindest hin und wieder am Steuer zu nutzen. Weil für viele Autofahren reine Routine ist, suchten sie gewissermaßen die Ablenkung, sagt ADAC-Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino. "Doch Routine ist der größte Feind der Achtsamkeit." Passiere dann doch etwas Unvorhergesehenes, könne der Fahrer mitunter nicht mehr rechtzeitig reagieren.
Wer etwa bei Tempo 50 für drei Sekunden aufs Handy schaut, absolviert fast 42 Meter Blindflug, rechnet Dekra-Unfallforscher Markus Egelhaaf vor. "Welcher Autofahrer würde während der Fahrt freiwillig für drei Sekunden die Augen schließen?" Auf einem Übungsplatz ließ er Testfahrer einen Parcours mit Tempo 30 absolvieren und nebenbei Handynachrichten tippen. "Viele Probanden reagierten auf einen Ball, der plötzlich über die Straße rollte, gar nicht", berichtet Egelhaaf. Mehrere übersahen ein rotes Ampelsignal.