Zensuren sind oft ungerecht und ungenau. Gerade bei jungen Schülern gibt es gute Alternativen.
In dem Dokumentarfilm "Ich. Du. Inklusion" sitzen Drittklässler mit ihrer Lehrerin im Kreis. Ein Junge erzählt, dass seine Mutter ihn für Fünfen mit Verboten bestraft, ein anderer sagt: "Meine Mama weiß, dass ich immer gut übe, deswegen wird sie nicht so sauer. Bei Papa ist das anders. Papa findet nicht gut, dass ich in Deutsch fast nur Vieren habe, und dann streiten sich Mama und Papa, und davor, wenn ich nach Hause geh, weine ich fast die ganze Zeit." Ein Mädchen berichtet: "Also wenn ich eine schlechte Note geschrieben hab, dann will ich immer ganz früh ins Bett und weine noch ganz lange." "Ich auch", flüstert ein Mitschüler.
Man schluckt und möchte denken: Einzelfälle. Doch wenn es um gute Schulnoten geht, legen viele Eltern einen erstaunlichen Ehrgeiz an den Tag. Ständige Leistungserwartung könne dazu führen, dass Kinder sich als ewige Versager fühlen, die Schule schwänzen oder sogar Lernbehinderungen entwickeln, warnen Psychologen. Zwar sind nur etwa 20 Prozent der Zensuren an deutschen Schulen Vieren, Fünfen oder Sechsen. Aber Schulkinder in Deutschland, die das System der Sortierung durch Noten früh verinnerlichen, wissen ganz genau: Wer eine Vier, Fünf oder Sechs hat, gehört eindeutig zu den Verlierern. Vor jeder Zeugnisvergabe appellieren Lehrerverbände an die Eltern, auf schwache Noten besonnen zu reagieren. Kinder bräuchten in solchen Momenten Verständnis und Zuwendung, nicht Enttäuschung und Druck.
"Schule muss leistungsorientiert sein"
Aber braucht es denn - zumindest in der Grundschule - überhaupt Noten? Viele Lehrer, vor allem Grundschullehrer, wundern sich, warum sie Schüler begabungsgerecht und individuell unterrichten sollen, wenn deren Leistungen dann doch am Ende pauschal verglichen und in eine feste Rangfolge einsortiert werden. Dabei kann doch ein und dieselbe Zensur im Rechtschreibtest zweierlei bedeuten: "Das kannst du besser, Leo!" oder "Super, Paul, du hast dich sehr verbessert!". Wenn stattdessen alle nur auf die Noten starren, zersetzt das die Freude an der Schule, dämpft die natürliche Wissbegier und schwächt den sozialen Zusammenhalt.
Gut beobachten kann man das in leistungsorientierten Bundesländern wie Bayern, wo die Zensuren von Viertklässlern für die schulische Zukunft ausschlaggebend sind. Kinder fangen an auszurechnen, welche Note sie in welchem Test schreiben müssen, um auf den erforderten Schnitt zu kommen. Es geht also weniger darum zu lernen, als darum, zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gute Punktzahl zu erreichen. Die Gefahr der sozialen Ausgrenzung wird durch die Notengebung, das klare Sortieren in sechs Leistungsstufen, verstärkt und beschleunigt. Denn Kinder erfassen sehr schnell, wer gut ist und wer schlecht.
Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, spricht inzwischen sehr deutlich davon, dass eine "differenziertere und individuellere Leistungsbewertung" viel sinnvoller sei als eine Note: "Was bringt einem Kind eine Fünf im Zwischenzeugnis? Motivierend ist das nicht." Und auch der Vorsitzende des Bayerischen Elternverbands Martin Löwe pflichtet ihr bei: "Wir können das nur befürworten. Ziffernnoten sind wenig aussagekräftig und bequem für Lehrer und Eltern."